[unternehmen!]: Was bedeutet würdevolles Altern für Sie?
Marvin Schell: Auf jeden Fall nicht das, was der Ist-Situation entspricht. Würdevolles Altern hat viele Aspekte. Einer ist, dass man mit dem Einzug ins Altenheim nicht gleichzeitig in die Steinzeit zurückversetzt wird. Warum werden im Jahr 2022 immer noch Einrichtungen ohne WLAN gebaut? Sprachassistenten wie Alexa könnten Pflegebedürftigen zu viel mehr Selbstständigkeit verhelfen. Sensorik-Böden in den Einrichtungen könnten Pflegepersonal entlasten, da immer klar wäre, wo gerade Bewegung ist und die Pflegekraft hier gezielt ansetzen kann. Fakt ist: Wir werden nicht mehr Pflegekräfte bekommen. Jetzt nicht und in Zukunft nicht. Zumindest nicht in dem Maße, in dem wir sie bräuchten. Weil es eine Branche ist, in der Interaktion zwischen Mensch und Mensch immer bestehen bleibt, müssen wir einem "ich kann gerade nicht" endlich konstruktiv entgegen treten. Dabei kann Digitalisierung helfen.
[u!]: Und warum gibt es so etwas nicht in den Einrichtungen? Alexas oder zumindest flächendeckendes WLAN?
Schell: Weil Standards gar nicht definiert sind. Investoren kann man da nicht den Vorwurf machen. Sie finanzieren das, was ihnen als Konzept vorliegt. Und was natürlich auch den Anforderungen der Pflegekasse entspricht. Aber wollen wir wirklich nur ,Satt-Sauber-Still-Buden‘? Wir brauchen keine Insellösungen mit einzelnen Einrichtungen, die besser ausgestattet werden, sondern ganzheitliche Ansätze. Bei der Planung einer neuen Einrichtung müssen Internet, Apps, Tools etc. direkt berücksichtigt werden. Später nachzurüsten ist der kompliziertere Weg und stößt auf wenig Bereitschaft. Deshalb gilt weiterhin: Wenn Sie als Träger die gesetzlichen Verpflichtungen an eine Senioreneinrichtung erfüllen, haben sie zwar mehr Anforderungen erfüllt als die an ein Atomkraftwerk gestellten – sind aber dennoch weit weg vom Zahn der Zeit.
[u!]: Einen großen Teil der Lebensqualität im Alter macht natürlich das Personal in den Einrichtungen aus.
Schell: Und hier liegt ein großer Teil des Problems. Stichwort Arbeitsbelastung und Arbeitsdichte. Wenn es 2035 laut Statista heißt, wir haben eine halbe Million offene Stellen in der Pflege zu erwarten– sind damit Vollzeitstellen gemeint? In der Pflegebranche arbeiten viele Teilzeitkräfte. 500.000 offene Stellen zu besetzen, hieße dann schon, eine Million Menschen zu finden, die in diesem Bereich arbeiten wollen. Dies ist nur eines der statistischen- und faktisch dargestellten Szenarien, denen wir uns in Deutschland nur gemeinsam stellen können.
[u!]: Wie gehen Sie in Sachen Fachkräftegewinnung vor?
Schell: Ausländische Fachkräfte zu gewinnen, hat sich auf jeden Fall nicht bewährt. Kultursensible Pflege ist ebenso ein Fremdwort wie kultursensible Personal-Integrationsmaßnahmen. Generell müssen wir uns als Träger in der Verantwortungsübernahme gegenüber unserer Dienstleistung die Frage stellen, ob wir Konformität erfüllen wollen oder tatsächlich eine Fachkraft gewinnen- und binden möchten. Das ist eine Haltungsfrage.
[u!]: Sie sind jetzt auf TikTok aktiv…
Schell: Genau. Unter dem Account „krassaltenheim“ zeigen wir als Unternehmen, warum es sich lohnt, den Sozialen Dienst weiterzuentwickeln und auf den Kompetenzaufbau dieser wichtigen Ressource zu setzen. Die Programmgestaltung des Sozialen Dienstes unterliegt ebenso dem Change Management. Ältere Menschen und Pflegekräfte verkleiden sich, erzeugen ein kleines Drehbuch und erfüllen auch so Konformität – um in der Sprache zu bleiben. Viel mehr jedoch sind wir mit dieser Maßnahme am Zahn der Zeit. Soziale Teilhabe, die Tätigkeiten der Funktionen erfrischen und den Bewohnern ein würdevolles Altern ermöglichen. „Hoch auf dem gelben Wagen“- die Zeit ist bei uns vorbei.
[u!]: TikTok… da denke ich zunächst an lustige, witzige, ironische Videos. Wie schaffen Sie es, hier den richtigen Grat und Ton zu treffen – Sie wollen ja Altsein nicht lächerlich machen…
Schell: Wir haben in unserem Netzwerk Menschen identifiziert, die Bedürfnisse von jungen Menschen kennen und die Plattform TikTok adäquat bedienen können. Wir sind diejenigen, die von Datenschutz, über Grat und Ton eine wohlfühlende Atmosphäre schaffen und Verantwortung übernehmen. Hier wird sich nicht lustig gemacht. Miteinander statt übereinander. Keiner wird gezwungen. Wenn Sie die Videos sehen – alle haben Spaß und fast vier Millionen Menschen haben die Videos bereits gesehen.
[u!]: Wofür haben Sie den Care for Innovation Award gewonnen? Oder was ist das Innovativste, was Sie derzeit tun?
Schell: Wir errichten gerade ein Skills Lab, welches als Praxiszimmer für Auszubildende dient, Präsentationsfläche für alle Insellösungen der Pflegebranche ist, Workspace für unsere Mitarbeiter und Kunden ist und vor allem als Konzepttreiber dienen wird. Ganzheitliche Lösungen entwickeln, in Standards überführen und unserer Kultur Ausdruck verleihen. Dafür benötigen wir die Kraft der Unternehmer mit Hilfe ihrer Produkte. Wir wollen es nämlich nicht besser machen, das wollen alle. Wir machen es anders.
[u!]: Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?
Schell: Erstmal, dass wir mehr Preise für unsere Arbeit gewinnen. Im Ernst: Mit dem Gewinn des „Care for Innovation“-Award auf der Altenpflegemesse 2022 haben wir sehr viel Bestätigung für die vielen kleinen Schritte unserer Arbeit erhalten. Das macht Mut und ist eben auch das, was wir uns für die Zukunft wünschen. Betreiber, Verbände und vor allem Politik benötigen Mut und Integrität, wenn sich mit dem Problem beschäftigt wird. All das, was wir als Betreiber an Innovationen vorantreiben, ist nicht das, was wir tun müssen, sondern etwas, was wir tun wollen. Eine Frage der Haltung, mit der wir in unserer Personalführung und -entwicklung sehr erfolgreich sind.
Der Digital-Podcast für die Pflege
Im Podcast „Pflege Digital Jetzt“ erzählen Führungskräfte, Fachkräfte, Azubis, Politik und Start-ups alle zwei Wochen über ihre Digital-Herausforderungen. Hier berichtete Marvin Schell unter der Überschrift „Anders sein, nicht besser machen“ über seinen Werdegang, die Vision für Stella Vitalis und wie sich der Betreiber am Markt durch smarte Digitalisierungsmaßnahmen abhebt. Schwerpunktthemen der Podcast-Folgen sind digitale Infrastruktur, digitales Recruiting, moderne Betreuung & Beschäftigung, technische Hilfen im Pflegeprozess, Online-Marketing für die Pflege und digitale Verwaltung.
Infos über das Unternehmen:
› www.stellavitalis.de